Donnerstag, 21. Mai 2020

Unverändert . Angstmache und Unsicherheit bei bestem Wetter . Es ist einfach keine Viruszeit .

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Seit zehn Wochen reden wir nun ununterbrochen über Corona – aber reden wir immer über das Richtige? Das Infektionsrisiko, die Kontaktsperreregeln und ihre Lockerung, die Klagen der Wirtschaft: Täglich werden unzählige Reden, Zeitungen und Talkshows damit gefüllt. Wenn ein Virologe oder der VW-Chef Piep sagt, springen alle auf und geben ihren Senf dazu, mal scharfen, mal faden. Bedeutende Dinge geschehen und große Räder werden gedreht. Frau Merkel und Herr Macron wollen mit einem 500-Milliarden-Programm die EU-Wirtschaft aufpäppeln, ein Lichtblick am verdunkelten europäischen Horizont. Herr Maas läutet die Strandsaison ein, und Herr Söder will Urlaubsgutscheine verteilen. Bevor wir nun auch noch über Hilfsmillionen für Freibadbesucher und Diskogänger diskutieren, sollten wir über ein paar andere Dinge reden: über drängende Themen, die unter den Tisch zu fallen drohen. Denn viele gesellschaftliche Gruppen leiden unter der Krise, werden aber kaum gehört – weil sie keine starke Lobby haben.
Die griechischen Strände bei Athen sind schon wieder gut besucht.  (Quelle: imago images)Die griechischen Strände bei Athen sind schon wieder gut besucht. (Quelle: imago images)
Beispiel eins: Viele Kinder und Jugendliche vereinsamen, weil sie ihre Freunde und Großeltern nicht treffen dürfen. Eine Studie zeigt: Ein Viertel von ihnen hat den Eindruck, dass ihre Sorgen nicht gehört werden. Längst haben noch nicht alle Schulen schlüssige Konzepte für einen halbwegs geregelten Unterricht erstellt; die Flickwerkbetreuung von zwei Tagen wöchentlich kann doch nicht ernsthaft bestehen bleiben, bis es irgendwann in zehn?, zwölf?, fünfzehn? Monaten einen Impfstoff gibt. Und was, sollte im Herbst eine zweite Infektionswelle auf uns zukommen – werden dann wieder wochenlang alle Schulen und Kitas zugesperrt, mit allen gravierenden Folgen? Schon jetzt sind seit Beginn der Corona-Krise in einem Fünftel aller Familien häufiger Konflikte aufgetreten. Gleichzeitig verzeichnen Jugendämter bis zu 40 Prozent weniger Meldungen. "Es ist verdächtig ruhig", hat mir eine Mitarbeiterin erzählt. Die Furcht ist groß, dass viele Misshandlungen nicht auffallen, weil die Kinder kaum Kontakt zu Lehrern, Ärzten, Freunden haben. "Das wird irgendwann wie eine Bombe hochgehen."
Beispiel zwei: Auch Menschen mit Erkrankungen, die nicht Covid-19 heißen, haben in dieser Krise keine Lobby. Ob akut oder chronisch: Wer an einer gravierenden Krankheit leidet, läuft in diesen Wochen Gefahr, dass seine Beschwerden zu spät behandelt werden. Manche Menschen trauen sich aus Angst, sich anzustecken, nicht mehr in die Arztpraxis oder ins Hospital. Andere würden gern, können aber nicht. Viele Krankenhäuser fahren den Betrieb jetzt erst wieder hoch, nachdem sie wochenlang voll auf Corona umgestellt hatten – selbst wenn die Betten mangels Patienten leer blieben. Die Diagnose von Schlaganfällen ist vielerorts um ein Viertel zurückgegangen. Natürlich bedeutet das nicht, dass es plötzlich weniger Fälle gibt – sondern dass weniger erkannt werden. Die Folgen für die Betroffenen können ähnlich gravierend sein wie für Krebs-, Diabetes- oder andere Patienten.
Nur zwei Beispiele von mehreren. Auch die Nöte von Behinderten, Obdachlosen, Geflüchteten und anderen gesellschaftlichen Gruppen werden zu wenig gehört. Ja, wir dürfen das Coronavirus nicht unterschätzen. Unbedingte Vorsicht lautet weiter das Gebot der Stunde. Aber zugleich müssen wir die Verhältnismäßigkeit wahren und uns um jene Menschen kümmern, die keine laute Stimme haben. Wenn der Verdacht aufkommt, dass die gegenwärtige Krisenstrategie mehr Verlierer als Gewinner produziert, dann läuft etwas falsch.
In Frankfurt demonstrierten Mütter, Väter und Kinder für die Beachtung der Kinderrechte während der Corona-Pandemie. (Quelle: dpa/Boris Roessler)In Frankfurt demonstrierten Mütter, Väter und Kinder für die Beachtung der Kinderrechte während der Corona-Pandemie. (Quelle: Boris Roessler/dpa)

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